Die faszinierenden Geschichten hinter den Fotos von Ilvy Njiokiktjien

In diesem Frühjahr widmet sich Kamera Express den Geschichten von Bildmachern. In diesem Interview sprachen wir mit Ilvy Njiokiktjien (geb. 1984), die die Kunst des Geschichtenerzählens mit ihren Fotografien auf eine einzigartige und faszinierende Weise beherrscht.

Das Erzählen von Geschichten mit Fotos scheint Njiokiktjien fast angeboren zu sein. Während eines Austauschjahres in Amerika kam Ilvy erstmals mit der Fotografie in Berührung, die sie seitdem nicht mehr losgelassen hat. Die Kombination aus Fotografie und Neugierde brachte sie bald in die Richtung des Fotojournalismus, einer Disziplin, in der sich alles darum dreht, die Nachrichten in einem oder wenigen Bildern festzuhalten

Ilvy unterhält sich gerne mit Menschen und ist von den Geschichten, die erzählt werden, aufrichtig betroffen. Dies ermöglicht es ihr, nah an ihre Motive heranzukommen und intime, intensive und oft konfrontative Fotos zu schaffen. Ilvy: ‘Menschen sind fast immer das Thema meiner Fotos, ihre Gefühle erzählen die Geschichte. Je besser ich sie kennenlerne, desto besser weiß ich, worauf ich achten muss, um den richtigen Moment einzufangen. Manchmal geht das sehr weit, wodurch ich mit ihnen mitfühle.’

Foto Ilvy Njiokiktjien - Leegte

© Ilvy Nijokiktjien

Leere

Ilvy: ‘Im Jahr 2014 wurde Flug MH-17 über der Ukraine abgeschossen, wobei fast 200 Niederländer ums Leben kamen. Viele Fotografen waren mit langen Teleobjektiven vor Ort, um die Katastrophe zu dokumentieren, und Journalisten durchforsteten das Internet, um mehr Informationen über die Opfer zu finden. Ich wollte genau die Leere zeigen, die die Opfer hinterlassen haben.’ In dieser Serie konzentrierte sich Ilvy auf die Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer der Opfer und darauf, wie sie diese vor ihrer Reise verlassen haben. Persönliche Gegenstände, ein vollgestopfter Schreibtisch, die Geschichte und der Kummer sind für immer in den Details der Leere eingefroren. ‘Was berührt, ist die Erkennbarkeit, vielleicht hatten diese Menschen in ihrem Urlaubsstress keine Zeit, vor ihrer Abreise das Bett zu machen. Und andere werden eigene Details in dem Foto wiedererkennen.’ sagt Ilvy.

Vertrauen und Verbundenheit

Um solche Fotos machen zu können und zu dürfen, sind ein Vertrauensverhältnis und Verbundenheit unerlässlich. Denn was man bei einigen meiner Fotoserien nicht sieht, ist die Arbeit, die in sie geflossen ist. Ilvy: ‘Nachdem eine Idee geboren ist, vergehen Stunden, Tage und manchmal Wochen der Recherche, des Kennenlernens von Menschen und der Vermittlung des Vertrauens, dass man versucht, etwas Schönes zu realisieren. Und das alles, bevor auch nur ein einziges Foto aufgenommen wurde. Oft besteht meine Arbeit aus 70 % Vorbereitung und nur 30 % tatsächlicher Fotografie.’

Foto Ilvy Njiokiktjien - Uitvaart Mandela

© Ilvy Nijokiktjien

Mandela-Beerdigung

Ilvy: ‘Zwischen 2007 und 2019 habe ich in Südafrika an einem Projekt über die Jugend gearbeitet, die mit Mandela als Führer des Landes aufgewachsen ist. Als Mandela starb, wollte ich so viel wie möglich von den Ereignissen rund um die Beerdigung festhalten, vor allem von dem beispiellosen Chaos, das zu dieser Zeit in der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria herrschte. Drei Tage lang lag Mandela tagsüber im Regierungsgebäude aufgebahrt, wo sich die Menschen von ihm verabschieden konnten. Jeden Morgen wurde sein Leichnam von der Leichenhalle zu den Union Buildings gefahren und jeden Abend kehrte er zurück. Weil so viele Menschen sich verabschieden wollten, bildeten sich stundenlange, manchmal tagelange Schlangen, und viele Menschen konnten ihm nicht mehr die letzte Ehre erweisen. Für viele wurde die tägliche Prozession zu und von den Union Buildings zu einer Art Abschiednehmen.’

Eine Frage von Glück und Hingabe

Ilvy: ‘Als der Leichenwagen zum ersten Mal vorbeifuhr, sah ich das Bild, das ich einfangen wollte: das Gewusel und Chaos der Menschen durch das Seitenfenster des Leichenwagens, mit Mandelas Sarg im Vordergrund. Zwei Tage lang stand ich an der Seite und hatte ich nur eine Chance, die richtige Aufnahme zu machen. Die vielen unvorhergesehenen Umstände machten es schwierig, sodass ich nach zwei Tagen noch nicht die richtige Einstellung hatte und alles auf den letzten Tag ankam. Nach vierstündigem Warten im Regen sah es so aus, als ob die Prozession nicht vorbeikommen würde. Alle gaben ihren Posten auf, auch ich. Gerade als ich mein Auto erreichte, hörte ich über meinem Kopf hinweg den Hubschrauber fliegen, der die Prozession in den Tagen zuvor begleitet hatte ... also doch! Ich sprintete los und kam gerade noch rechtzeitig, um meine Kamera einzuschalten und zu fotografieren. Ich hatte keine Zeit für Einstellungen, ich habe einfach mit den Einstellungen fotografiert, die mir die Kamera bot. Am Ende hatte ich großes Glück, denn das endgültige Bild zeigt genau das, was ich wollte: den Regen auf dem Fenster, die starken Emotionen der Umstehenden, das Auto und den Sarg, die Flagge und einen südafrikanischen Baum in der Spiegelung.’

Foto Ilvy Nijokiktjien - Oekraïne

© Ilvy Nijokiktjien

Ukraine

Ilvy: ‘Der Abschied zweier junger Liebender findet auf dem Bahnhof von Lemberg, der größten Stadt im Westen der Ukraine, statt. Der Soldat im Zug hat sich seit seinem 15. Lebensjahr zum Berufssoldaten ausbilden lassen, und nun, sechs Jahre später, kann er endlich an die Front nach Kramatorsk gehen und für sein Land kämpfen. Dafür hat er trainiert, und er freut sich darauf. Seine Freundin (20) auf der rechten Seite ist entsetzt und der Gedanke, dass er vielleicht nicht mehr lebend zurückkommt, ist für sie logischerweise unerträglich. Ich kam mit dem Paar ins Gespräch und konnte so die Geschichte ihres Abschieds besser verstehen. Das gab mir die Möglichkeit, ganz nah heranzukommen und ihre Emotionen auf eine intime Art und Weise einzufangen. Wegen der Ungewissheit über die Abfahrtszeit der Züge mussten sie sich dreimal verabschieden, bevor er tatsächlich abfuhr. So schwer es auch war, so gab mir dies doch zwei weitere Chancen, das richtige Bild zu machen, um ihre Geschichte zu erzählen. Die ganze Verabschiedung dauerte fast vier Stunden, was den Leuten nicht immer bewusst ist: Fotografieren bedeutet vor allem viel Warten und Geduld.’


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